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Miteinander reden, statt weitere Zäune und Lager bauen

Am Freitag referiert in Glarus der St. Galler Literaturwissenschaftler Mario Andreotti über die Kluft zwischen moderner Dichtung und christlichem Glauben – und versucht eine mögliche Annäherung.

Südostschweiz
12.02.23 - 04:30 Uhr
Kultur
Der Referent: Literaturwissenschaftler Mario Andreotti.
Der Referent: Literaturwissenschaftler Mario Andreotti.
Bild Swantje Kammerecker

von Swantje Kammerecker

Der Verein Kulturzyt, die Evangelisch-Reformierte Kirchgemeinde Glarus-Riedern sowie die Katholische Pfarrei St. Fridolin Glarus laden gemeinsam zum Vortrag des aus Schwanden stammenden Germanistik-Professors Mario Andreotti ein. Anhand etlicher Beispiele leuchtet er das spannende wie auch spannungsreiche Verhältnis zwischen moderner Literatur und christlichem Glauben aus. Dieses ist durch Einwände und Vorbehalte gekennzeichnet – geprägt von der Unvereinbarkeit des Glaubens an einen von Gott geordneten Kosmos, auf dem jede wirklich christliche Dichtung ruht, und der vorherrschenden Grunderfahrung einer in sich heillos zerrissenen, gesichtslosen Welt.

Religion fristet im privaten wie im öffentlichen Raum zunehmend ein Nischendasein, und kirchliche Bildungen gehen verloren: Gehörten Anfang der 1970er-Jahre noch über 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung einer der beiden Landeskirchen an, der reformierten oder der katholischen Kirche, sind es heute kaum mehr als 50 Prozent. 30 Prozent sind ohne Konfession. Auch unter getauften Christen glaubt nur noch jeder dritte an die Auferstehung Jesu und an ein Leben nach dem Tod. Der Rest feiert Ostern als Eiersuch- oder als Gotthardstau-Ritual.

In der zeitgenössischen Literatur spiegelt sich die Abkehr von der Religion. Diese Entwicklung hat jedoch, wie Professor Mario Andreotti aufzeigt, bereits im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, eingesetzt – mit der beginnenden Auseinandersetzung zwischen Wissen und Glauben. Typisch christliche Themen finden sich im ausgehenden 19. Jahrhundert immer seltener in der Literatur, ausgenommen in bewusst christlichen Werken.

Pervertierung göttlicher Gnade

Interessanterweise wirkten aber christliche Vorstellungen in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts punktuell weiter. So etwa, wenn Franz Kafka in seinen Werken die Pervertierung göttlicher Gnade zeigt, wenn Friedrich Dürrenmatt im «Meteor» den christ-lichen Auferstehungsglauben verfremdet oder wenn Elfriede Jelinek in Theaterstücken und Romanen eine religiöse Formelsprache verwendet. Religions- und Gesellschaftskritik an den Christen, an ihrem unpolitischen Verhalten, ihrer Nähe zur Macht, ihrer Doppelmoral, aber auch an ihrem Heilsegoismus findet sich bei Bertolt Brecht, Heinrich Böll, Arno Schmidt, Rolf Hochhuth und Kurt Marti. Erscheint Religion in der modernen Literatur also nur noch als Projektionsfläche negativer Zuschreibungen oder höchstens als atmosphärische Kulisse? Ist die christliche Dichtung tot, wie oft behauptet wird?

Andreotti gibt zu bedenken: Indem christliche Literatur, ohne das eigene Urteil auch nur im Geringsten kritisch zu prüfen, vorschnell als «rückwärts-gewandt» und «Vorspiegelung einer heilen Welt» abgetan wird, würden Chancen vertan. Die Bewährung des Menschen in den Anfechtungen der Welt, ein Dasein zwischen Freiheit und Schuld, das Ausgesetzt-Sein ohne Heilsgewissheit – solche Themen sind auch Gegenstand des modernen existenziellen Denkens. Welche Autorin, welcher Autor der Moderne hat schon Karl Barth, Rudolf Bultmann, Dietrich Bonhoeffer, Karl Rahner oder Hans Küng gelesen? Und bieten nicht die Werke einer Gertrud von Le Fort, einer Elisabeth Langgässer, einer Luise Rinser, eines Werner Bergengruen oder einer Silja Walter eine lohnende Auseinandersetzung mit christlich-existenziellen Fragen?

Beide Seiten, so Andreottis Fazit, sollten nicht weiter Zäune und Lager errichten, sondern in einen Dialog eintreten. Das hiesse einerseits, dass sich eine christliche Dichtung nicht mehr nur auf eine das Leben angeblich sichernde Ordnung zurückziehen dürfte. Und das hiesse andererseits, sich einzugestehen, dass in christlicher Literatur, bei aller Darstellung einer gebrochenen Welt, etwas davon spürbar sein darf, was der Christ Heilsgeschichte nennt.

Vortrag

Freitag, 17. Februar, um 18 Uhr, evangelisches Kirchgemeindehaus Glarus, Zollhausstrasse 1. Eintritt frei, Kollekte.
Infos: www.kulturzyt.ch.
Ein Büchertisch und ein kleiner Apéro stehen bereit.

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